Metropol (German Edition) by Ruge Eugen
Autor:Ruge, Eugen [Ruge, Eugen]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2019-10-07T16:00:00+00:00
Regen prasselt gegen Fenster und Bleche. Eine Straßenbahn rumpelt um die Kurve, die Räder stoßen gegen die Schienen, wollen lieber geradeaus. Charlotte wartet darauf, dass Wilhelm einschläft. Sie weiß schon, dass sein Schnarchen sie stören wird. Trotzdem wünscht sie sich, dass er endlich schläft, endlich fort ist. Endlich, am Ende des Tages, will sie mit sich allein sein.
Aber Wilhelm schläft nicht, sie hört es an seinem Atem. Schaut er die Sterne an? Wünscht er sich was? Was könnte Wilhelm sich wünschen? Was denkt dieser Mensch? Zweifelt er nie? Würde er zweifeln, wenn sie ihn eines Tages abholten?
Entsetzliche Entdeckung: dass sie, wenn auch nur in einem blitzartigen, schattenhaften Anflug, imstande ist, sich das zu wünschen. Nicht sie, das andere, das Schlechte in ihr. Das dumme Tier, das die einfachsten Dinge nicht begreift: Wenn Wilhelm abgeholt wird, werde auch ich abgeholt. Aber warum, um Himmels willen, sollten sie Wilhelm abholen?
Dann, endlich, ist von drüben, aus dem anderen Bett, sein unkontrollierter, fiepender Atem zu hören. Wilhelm ist fort, unerreichbar. Jetzt schämt sie sich. Versucht, gerecht zu sein. Erwin hat ihr niemals Blumen zum Geburtstag geschenkt. Zu ihrem Fünfundzwanzigsten hat sie einen Staubsauger bekommen – mit Handpumpe. Sie muss leise lachen bei der Erinnerung. Wie Erwin ins Schwitzen kam, als er beweisen wollte, dass man keinen von diesen neumodischen elektrischen Staubsaugern braucht. Und wenn sie an ihre Kindheit zurückdenkt: Gab es da überhaupt so etwas wie Geburtstag? Niemals hatte sie auch nur einen Geburtstagsgast. Auch an Geschenke kann sie sich nicht erinnern – außer an eine karierte Jacke, die aus einem abgelegten Mantel ihres Bruders genäht worden war, und dabei war der schon gebraucht gekauft. An den Rührkuchen mit Kerze, der zum Geburtstag morgens auf dem Küchentisch stand – das war alles. Und, ja, an die kleinen Papiertiere, die ihr Vater mit der Schere ausschnitt und am Fuße so knickte, dass man sie aufstellen konnte: Elefant, Fisch und Esel fallen ihr ein.
Und bei der Erinnerung an diese selbstgezeichneten, selbstausgeschnittenen Tiere, die der Vater ihr neben den Rührkuchen stellte, zerfließen auf einmal die Sterne vor ihren Augen. Sie bemüht sich erst gar nicht, die Tränen zurückzuhalten.
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